Immer wenn jemand Fremdes in meinem Blog einen Kommentar hinterlässt, kaufe ich sofort alles, was er oder sie an Käuflichem zu bieten hat. Aus purer Dankbarkeit. Vor zwei Wochen warf Herr Amazon also folgerichtig Christian Ritters Kurzgeschichtenbändchen „halb|neu“ in meinen Briefkasten. Sehr prima Lesestoff, der Mittdreißigern wie mir vor Augen führt, dass sie eben nicht mehr zur Generation der Jungen gehören. Ich bin noch nicht ganz durch, muss ich gestehen, aber da, wo das Büchlein jetzt liegt, erfährt es jedes mal volle Aufmerksamkeit.
„Alt geworden“ ist aber hier das Thema. Die erste hervorragende Story „Die Pimps von der 1A“ kolportiert einen ersten Schultag Anno 1989, so circa. Da ist von der natürlichen Hackordnung die Rede, von den Viertklässlern, die den Schulhof beherrschen und die i-Männchen kompromisslos wissen lassen, wo’s langgeht. Heute ist das alles anders. Christian schwant schon böses:
Wir aßen nur das innere Weiche von unseren Pausenbroten und schmissen die Rinde weg, weil die angeblich das Gesündeste war. Und wenn mal eine von den „Bitches“ oder, wie wir damals noch sagten, von den „Mädchen, igitt“ sagte, dass die Kinder in Afrika froh wären, über die Rinde, dann taten wir so, als ob wir sie küssen wollten, was sie zuverlässig vertrieb und heutzutage wahrscheinlich in einer (sic!) Klage wegen sexueller Belästigung münden würde.“
Anschließend zählt er viele Vorteile auf, die die kleine unvernetzte und klar geordnete Welt der Grundschüler „damals“ hatte. Das alles fiel mir spontan ein, als mir heute in der Mensa ein Kollege von den Erstklässler-Erfahrungen seines Sohnes erzählt hat. Der hat einen Paten. Einen Viertklässler. Nein, nicht zum Taschengeldabzocken. Sondern ganz offiziell: Der nimmt ihn an die Hand in den ersten Wochen und erklärt ihm die Schule. Und er ist nicht der einzige: Alle Erstklässler werden von den Viertklässlern behutsam in die fremde Welt geleitet.
Sind die Kinder anders geworden? Oder die Welt? Oder unsere Erwartungen daran? Ist das verkuschelnde Verweichlichung, weil die, die sich Erstklässler-Mentoren-Programme ausdenken, wie Christian die heile Welt der 80er-Grundschule zurücksehnen? Oder sind wir gar vernünftiger geworden und können unnötige Risiken und Konflikte vermeiden?
In meiner 70er-Grundschule unterschied man noch hauptsächlich die, die schon Hochdeutsch konnten und die, die nur Platt schnackten. Und als Christian Grundschüler war, musste durfte ich auf der Gorch Fock klettern und segeln. Damals hieß das: „Tradition der christlichen Seefahrt fortführen“ und wir sangen:
Wir lagen vor Madagascar,
und hatten die Pest an Bord,
in den Kesseln, da faulte das Wasser,
und täglich ging einer über Bord.
Heute will man 500 Jahre alte Traditionen fortführen, Columbus‘, Magellans und Cooks Erbe wahren, so original wie möglich. Von Magellans ursprünglicher 234-Mann-Crew kamen 17 an. Nichtmal er selbst. Wenn heute jemand außenbords geht, schreit man: Skandal! Die haben ja nichtmal Schwimmwesten an! (Selbstverständlich ist es eine Tragödie, dass solche ein Unfall passiert. Die Welt wäre ohne Zweifel ein Stück besser, wenn die jung Offiziersanwärterinnoch wie durch ein Wunder gefunden würde. Mein Argument ist nur: Man kann nicht „seemännische Tradition“ und „Sicherheitsstandards 2008“ kompromissfrei in Einklang bringen.) Eine Hauptschlagzeile heute: „Besatzung der Gorch Fock wird psychologisch betreut.“
Ich fürchte: Bei allumfassender Absicherung, Erstklässlermentoren, Überallsicherheitsgurten und Rundumaufprallschutz geht uns verloren, dass auch negative Erfahrungen, Ängste und Risiken zum Leben gehören.