Im Frühling gefiel es dem Schüler, dem Fisch, dem Frosch und der Schlange Steine umzubinden, um sich an ihrer Hilflosigkeit zu erfreuen. Der Meister sah dies und band dem Schüler nachts einen schweren Stein auf den Rücken. »Meister, auf meinem Rücken ist ein Stein. Bitte nehmt ihn weg!« fleht der Schüler am Morgen. »Glaubst du, dass es dem Fisch genau so geht, wie dir? Und geht es dem Frosch auch so wie dir? Und geht es der Schlange auch wie dir?« fragt der Meister und der Schüler bejaht dreimal. Der Meister spricht: »Dann steh jetzt auf! Geh und such die Tiere und lass sie sofort frei. Dann befreie ich auch dich. Wenn eines stirbt, dann wirst du dein Leben lang diesen Stein auf deinem Herzen tragen.« Der Schüler sucht vom Stein auf dem Rücken beschwert die Tiere und kann den Fisch und den Frosch befreien. Die Schlange aber ist tot und der Schüler weint. Der Frühling ist vorbei.
Diese insgesamt zehnminütige Szene aus Kim Ki-Duks Film »Frühling, Sommer, Herbst, Winter… und Frühling« (Südkorea, 2003) ist an erzählerischer Klarheit und Einfachheit kaum zu überbieten. Die Episode ist, wie der gesamte fast dialoglose Film nur spärlich musikalisch untermalt und mit ruhiger, zumeist statischer Kamera festgehalten. Der Schüler altert und lernt Weiteres kennen: Begierde, Eifersucht, Buße, Trauer, Erfüllung. Immer wieder greift der Meister ein. Schickt den Schüler fort, nimmt ihn wieder auf und hinterlässt ihm sein in der Mitte eines kleinen Sees gelegenes winziges buddhistisches Kloster als Erbe und Aufgabe, seine Nachfolge anzutreten.
Bezogen auf Tim Schmidts Unterscheidung zwischen Erziehung, Sozialisation und Bildung scheint sich der Film auf das erzieherische Handeln des Meisters zu konzentrieren und damit Bildung als Aktivität des Sich-Bildenden in den Hintergrund zu rücken. Das ist aber nur eine Ebene der sich anbietenden Interpretationen. Die Langsamkeit des Films verweigert es dem Zuschauer, das Ganze wie eine spannende, rasante Geschichte konsumieren zu können, sondern zwingt ihn durch eine sehr reduzierte aber symbolschwangere Bildsprache zu Deutungsversuchen, die über die dargestellte Handlung hinausgehen.
Die buddhistischen Akzente sind uns nicht unmittelbar zugänglich, wirken hier aber glücklicherweise nicht als bloß ablenkendes exotisches Beiwerk. Den See, das Kloster und den Meister können wir – als kulturell von Christentum und Aufklärung geprägte Zuschauer – problemlos als »moralische Instanz« lesen, wie sie auch Kants berühmtes Zitat aus der Kritik der praktischen Vernunft beschreibt:
Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.
Insofern stellt der Film auf lyrische, durch seine Langsamkeit haften bleibende Weise Bildungsprozesse als echte »Transformationen von Selbst- und Weltverhältnissen« (Kokemohr) vor. Der auf den Rücken gebundene Stein, der im Herzen überdauert, lässt den Schüler erfahren, Teil der Welt zu sein: »Dein Handeln hat Konsequenzen für andere und der Schmerz, den du anderen zufügst, ist auch deiner.« Das Ziel, selbst keinen neuen Schmerz erfahren zu müssen, kann er nur erreichen, indem er für sich das Verhältnis zwischen Selbst und Welt neu definiert.
(Dieser Beitrag bezieht sich auf eine Aufgabe aus dem Seminar »Kino als Kunst«. Sie lautete: Stelle einen beliebigen Film vor und beziehe ihn auf die im Seminar gegebene Definition des Bildungsbegriffs von Kokemohr.)