E-Learning – zur Pathogenese eines ungeliebten Begriffs

So richtig überzeugt und gern spricht niemand von E-Learning. Zu sehr ist damit die Vorstellung verbunden, automatisches Lehren und automatisches Lernen gleichgeschaltet zu verkoppeln und das Seelenlose zum pädagogischen Prinzip zu erheben. Der alte Menschheitstraum dahinter: Das Lernen mühelos machen. Die Urangst dahinter: Den Lernenden zu bevormunden und zur Unselbständigkeit zu erziehen. Damit sind wir schon beim Nürnberger Trichter, der wohl wichtigsten Allegorie des E-Learnings. Auch in aktuellen Darstellungen ist diese sehr alte, reduzierende Verquickung von großen Hoffnungen und großen Ängsten immer wieder zu finden.

Und so ringen die E-Learning-Protagonisten um Begriffe, die beides nicht mitbedeuten. Sie haben aber keine Chance, durch reinen Austausch von Worten ungewollte Konnotationen (und Ecken, in die man ständig und gegen den eigenen Willen gestellt wird) zu vermeiden. Im Hintergrund lauern mächtige Figuren aus der Kulturgeschichte: Vom Golem, über Homunculi, den Zauberlehrling und Frankenstein bis hin zu HAL 9000. Groß ist die Angst, etwas aus der Hand zu geben, was originär menschliche Fähigkeit ist: zu atmen, zu denken, zu richten – oder eben zu lehren.

Also wird E-Learning gern mit einem Begriff kontrastiert, der Besseres und Behrrschbareres beschreiben soll: Blended-Learning. Aussagen wie “Wir machen nicht (reines/bloßes/nur) E-Learing, sondern Blended-Learning” hört man häufig. Damit ist vor allem die vorauseilend tröstliche Botschaft gemeint: Wir geben der Maschine keine Macht, die Kontrolle bleibt beim Menschen.

Über eigenes Lehren und eigenes Lernen die Kontrolle zu behalten ist aber gar keine Frage von Technik. Sondern eine von Organisation und Rahmenbedingungen. Programmierter Unterricht funktioniert auch ohne Computer, die grundgesetzlich verankerte Freiheit der Lehre impliziert (geschweige denn expliziert) kein Computerverbot. Lehrpläne und Prüfungsvorschriften sind eine viel größere Bedrohung für die Bildung als “Online-Lernen”.

Letzterer Begriff birgt eine weitere Bedrohungsdimension: Das Unechte. Spiegel Online veröffentlichte gestern prämierte Arbeiten eines Plakatwettbewerbes zu Chancen und Risiken des “digitalen Studiums”. Die Spiegel-Redaktion, vermutlich auch die Wettbewerbsjury und eventuell am wenigsten die Studierenden selbst demonstrieren einen gepflegten Ekel vor dem Virtuellen und eine immer noch gesellschaftsfähige Geringschätzung derer, die die virtuelle Welt mit Ernst betrachten und bevölkern. Das Echte, Wahre, Gute ist demzufolge das in der wirklichen Welt Erlebbare, der unmittelbare Kontakt mit anderen Menschen, der direkte Weg beim Lernen und Lehren. Als funktionierte Lernen jemals ohne Medien, als übertrüge sich Wissen von selbst, wenn es nur mit Blickkontakt gepaart sei und als bildeten sich Menschen gegenseitig nur durch Atmen der gleichen Luft.

Schließlich spielt in die Begriffsverwirrung noch eine innerhalb der E-Learning-Szene geführte Debatte um “echtes E-Learning” und “bloße Technikverwendung” eine Rolle. Bei der Podcast-University 2007 gab es anhand des Begriffes Podcast dazu eine zumindest das Dilemma erhellende Diskussion. Immer wieder höre ich z.B. in Demonstrationen der Lern- und Arbeitsplattform Stud.IP nach mehr als einer halben Stunde den Satz “und jetzt kommen wir zum echten E-Learning”. Gemeint ist dann je nach Vortragendem etwas völlig Unterschiedliches, gemein ist dabei aber: Es gibt offensichtlich den Wunsch, E-Learning als eine reine Idee zu verstehen, deren Umsetzung so ganz nie gelingen kann, aber die ein Ideal ist, das man anstreben kann. Damit wären wir beim Höhlengleichnis und weit entfernt von begrifflicher Klarheit.

So bleibt es beim ungeliebten Begriff. Ich halte ihn für den besten, den es für das von ihm Bezeichnete gibt. Irgendwann wird er verschwinden. Nicht ersetzt werden, sondern verschwinden. Denn in einer Welt, in der das Digitale ubiquitär ist, wird auch das Lehren und Lernen digital sein. Wie genau das auch immer aussieht, dafür wird es neue Begriffe geben, die aber nicht mehr das Ganze als Abgrenzung zu anderen Formen bezeichnen wollen und müssen.

Niemand spricht heute von sauerstoffunterstüztem Lernen. Denn ohne Sauerstoff ist schließlich alles menschliche Handeln schwer vorstellbar. Ob es in Bezug auf E-Learning und das allgegenwärtige Digitale so weit kommt, ist offen. Und so lange brauchen wir einen schillernden Begriff wie den des E-Learnings, der immer auch Ängste und Hoffnungen mit sich trägt.

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